
Die grünen Tücher haben während der letzten Jahre den Straßen, Plätze und öffentlichen Orten in den Ländern Lateinamerikas Farbe gegeben. Sie stehen für die Forderung nach dem Recht der Frau über ihren eigenen Körper zu entscheiden und beziehen sich im speziellen auf den Kampf für das Recht auf Abtreibung. Das grüne Tuch hat seine Wurzeln in der Bewegung der Madres de la Plaza de Mayo in Argentinien, die ab 1977 auf der Suche nach ihren während der Militärdiktatur verschwundenen Kindern waren und während der Proteste als Symbol weiße Kopftücher trugen. Jahre später, während des XVIII Encuentro Nacional de Mujeres (Nationales Frauentreffen) in Rosario (Argentinien) 2003, wurde die Benutzung der grünen Tücher propagiert und seit 2005 nutzt und verbreitet die Campaña Nacional por el Derecho al Aborto Legal, Seguro y Gratuito (Nationale Kampagne für das Recht auf legale, sichere und kostenlose Abtreibung) das Symbol als Teil ihres öffentlichen Auftretens. Ihr Logo beinhaltet ein weißes Tuch im Zentrum und den Leitspruch „Educación sexual para decidir, anticonceptivos para no abortar, aborto legal para no morir” (Sexualerziehung um zu entscheiden, Verhütungsmittel um nicht abzutreiben, legale Abtreibung um nicht zu sterben).
In einem Kontext regionaler Mobilisierung und mehr politischer Einflussnahme auf Verfassungsänderungen in den lateinamerikanischen Staaten, gewann die Bewegung seit 2018 an Kraft. Damit überspannten die Tücher die Staatsgrenzen und übernahmen die Forderungen nach Legalisierung und Entkriminalisierung von Abtreibungen im jeweiligen Land. In Kolumbien haben diverse Kollektive, Gruppen, Aktivistinnen, Wissenschaftlerinnen, Plattformen und soziale Organisationen das Tuch getragen, um die reproduktive Freiheit mit Slogans wie “Aborto libre” (Freie Abtreibung), “Aborto legal ya” (Legale Abtreibung jetzt), “Aborto libre, seguro y gratuito…No bastan 3 causales” (Freie, sichere und kostenlose Abtreibung... 3 Gründe sind nicht genug) und ähnlichen zu fördern. Die Tücher waren auch Teil der Kampagne, die sich mit dem Slogan: “Causa Justa, por la eliminación del delito de aborto” (Causa Justa, für die Abschaffung des Straftatbestandes der Abtreibung) als historisch erweisen sollte.
Auch wenn die sogenannte „Marea Verde“ (Grüne Flut) auf der ganzen Welt zunahm, war Lateinamerika der Ort besonders starker Expansion von feministischen Bewegungen und Frauengruppen, die für ihre Rechte, aber im speziellen auch für ihre sexuellen und reproduktiven Freiheiten kämpften. Solche Vereinigungen haben es ausgehend von der Südspitze Lateinamerikas, über Kolumbien, Zentralamerika und bis in die Karibik geschafft die Aufmerksamkeit der Politik und der Öffentlichkeit auf das Thema zu lenken. Obwohl diese Debatte in vielen Staaten sehr kontrovers geführt wird, weiß der Großteil der Gesellschaften auf was sich dieselbe bezieht. Trotzdem ist die Desinformation über den freiwilligen Schwangerschaftsabbruch weiterhin eine zentrale Herausforderung, die es zu bewältigen gilt. Dieser Aktivismus hat es den Frauen, feministischen Organisationen und Kollektiven nicht nur möglich gemacht, Forderungen, speziell über ihre sexuellen und reproduktiven Rechte zu artikulieren, sondern auch in der Öffentlichkeit und in Entscheidungsfindungsprozessen gehört und anerkannt zu werden.
Als Bezugspunkt und Vorreiter bei der Förderung der Abtreibungsrechte in Lateinamerika (und auch weltweit) sticht Kolumbien mit dem Urteil C-055 hervor, das eine Dekriminalisierung von Abtreibungen bis zur 24.Woche festlegt und damit für Frauen, Mädchen, Trans-Männer und Non-Binäre Personen selbstbestimmte Schwangerschaftsabbrüche ermöglicht, ohne sich erklären zu müssen oder bestimmte Anforderungen zu erfüllen. Nach Ablauf dieser Frist gelten die drei im vorherigen Urteil C-355 von 2006 festgelegten Gründe (Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der Frau, fötale Missbildung, Vergewaltigung oder Inzest) ohne eine weitere Begrenzung der Wochenanzahl.
Dieses Ergebnis ist ein historischer Erfolg der Causa Justa-Bewegung. Diese entstand 2017 als eine Initiative der Vereinigung La Mesa por la Vida y la Salud de las Mujeres (Der Runde Tisch für die Gesundheit und das Leben von Frauen, kurz: La Mesa), die sich seit 25 Jahren für reproduktive und sexuelle Rechte in Kolumbien einsetzt. 2020 traten andere Frauenorganisationen, feministische Gruppen und Menschenrechtseinrichtungen, sowie Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen, Wissenschaftlerinnen und Think Tanks dieser Koalition bei. Dadurch sind aktuell über 100 Organisationen aus mehr als 20 Gebieten Kolumbiens Teil von Causa Justa. Fünf dieser Einrichtungen (La Mesa, Women’s Link Worldwide, Católicas por el Derecho a Decidir, Grupo Médico por el Derecho a Decidir und Centro de Derechos Reproductivos) reichten im September 2020 die Klage vor dem Verfassungsgerichtshof ein, die das Ziel hatte den Straftatbestand des Schwangerschaftsabbruchs aus dem Strafgesetzbuch zu streichen.
Diese juristische Strategie (verstärkt mit 90 Argumenten) wurde mehr als 500 Tage lang, bis zu einem positiven Ergebnis im Februar 2022, von Protesten auf den Straßen, der Produktion von Argumenten und Wissen durch Experten, Interessensvertretung bei der Exekutive und der Legislative, der Vernetzung und Stärkung von Organisationen, sowie einer Kommunikations- und Medienstrategie begleitet. Trotz des Erreichens dieses ersten Zieles setzt sich Causa Justa weiterhin für Frauenrechte und vor allem für die soziale Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ein. Dazu gehören auch die Arbeit zur Erhaltung der Regelungen dieses Gesetzes, weitere politische Mitarbeit und die Erarbeitung von Bildungskampagnen für verschiedene Zuhörerschaften. Zusammenfassend hat Causa Justa eine integrale Strategie, die nicht nur als Beispiel oder Inspiration für andere Kämpfe und Bewegungen von Frauen und Feministinnen, sondern auch für die ganze soziale Bewegung gelten kann, die tiefgreifende soziale, politische und kulturelle Veränderungen anstrebt.
Als Anerkennung des beschriebenen Sieges hat das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung Bogotá der Causa Justa die Ausgabe Nummer 38 ihrer Zeitschrift ideas verdes gewidmet. Der vorliegende Abschnitt stammt aus der Einleitung des Hefts.